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AutorenbildChristian Gersbacher

Diskrimierung kann tödlich sein: Der Fall George Floyd



Am 25. Mai 2020 ging ein Video um die Welt, das den brutalen Mord an George Floyd festhielt: Ein Polizist kniet Acht Minuten und 29 Sekunden auf Floyds Hals und lässt auch nicht davon ab, als Floyd mehrmals ruft: »I can’t breathe« – »Ich kann nicht atmen!« Aber wer war George Floyd? Wie hat er gelebt? Floyds Familie war schon seit Generationen Opfer von Rassismus und Diskriminierung. Und auch er selbst hatte mit den typischen Problemen eines Schwarzen in den USA zu kämpfen: ein Schulsystem, das Schwarze systematisch benachteiligt, die Hoffnung, durch den Sport dem Elend zu entkommen, die alltägliche Drangsalierung der Polizei. Die beiden Reporter der Washington Post Robert Samuels und Toluse Olorunnipa haben die erste Biographie über George Floyd geschrieben. In einem Interview mit den Fischer Verlag erzählen sie von überraschenden Rechercheergebnissen, denkwürdigen Gesprächspartner*innen und dem lehrreichen Leben des Mannes, dessen Ermordung die Welt verändert hat.


Wir alle kennen die Geschichte von George Floyds tragischem Tod. In Ihrem neuen Buch erzählen Sie die Geschichte seines Lebens. Wieso ist es so wichtig, dass wir auch diese Geschichte kennen?

Wie Millionen von Menschen auf der ganzen Welt haben wir das Video von Floyds Ermordung, das im Sommer 2020 immer wieder in Nachrichtensendungen gezeigt wurde und in den sozialen Netzwerken kursierte, mit großem Schrecken gesehen. Dieses schockierende Videomaterial war für uns der Anlass, es uns zur Mission zu machen, nicht nur mehr über die neun Minuten und neunundzwanzig Sekunden herauszufinden, in denen er eines gewaltsamen Todes starb, sondern auch über den Kampf, den er zeitlebens führte. Floyds Tod entfachte die größte Bürgerrechtsbewegung in der Geschichte der Vereinigten Staaten. Aus diesem Grund ist er eine historische Figur, deren Leben uns viel über das Land verrät, in dem er lebte und starb. Je mehr wir über Floyds Lebensweg erfuhren, desto klarer wurde uns, dass sein Leben ein anschauliches Beispiel dafür liefert, wie systemischer Rassismus im 21. Jahrhundert funktioniert. Darum ist es wichtig, nicht nur zu verstehen, wie er unter dem Knie eines Polizeibeamten erstickte, sondern auch, wie er jahrzehntelang darum kämpfte, als Schwarzer Mann in den USA atmen zu können.

Der Tod von Floyd löst weltweite Proteste aus, Foto: Nathan Dumlao / Unsplash


Die Demonstrationen, die auf Floyds Ermordung folgten, entwickelten sich rasch zu einem weltweiten Phänomen. Auch in deutschen Städten gingen Tausende Menschen in seinem Namen auf die Straße. Wieso hat Ihrer Meinung nach ausgerechnet dieser Fall international für solche Entrüstung gesorgt?

Floyds Ermordung war ein schrecklicher, herzzerreißender Anblick für die Millionen von Menschen, die Zeugen dieser qualvollen neuneinhalb Minuten wurden. Aufgrund der besonderen Situation, in der sich die Welt am 25. Mai 2020 befand, konnten die Menschen gar nicht anders, als diesen Aufnahmen ihre Beachtung zu schenken. In unserem Buch schreiben wir dazu: »Während der Pandemie, als Sportveranstaltungen abgesagt, Schulen geschlossen und die Menschen aufgefordert wurden, ihre Wohnungen nicht zu verlassen, konnte das Land diesen auf Video festgehaltenen Vorfall von Polizeibrutalität nicht so leicht ignorieren wie sonst.« Auch die Welt konnte nicht wegschauen. Es ist für alle Menschen entsetzlich, zu sehen, wie ein Mann in Handschellen um sein Leben fleht und nach seiner Mutter schreit, während er am hellichten Tag von einem Polizisten erdrosselt wird und Umstehende besorgt um Gnade für ihn bitten.


Sie verfolgen in Ihrem Buch einen holistischen Ansatz: Während wir in Floyds Lebensgeschichte eintauchen, erfahren wir zugleich viel über die Geschichte der USA und ihre Institutionen. Was war für Sie die größte Überraschung im Laufe Ihrer Recherchen?

Dass zu diesem Thema noch kaum recherchiert worden war. Als Gesellschaft fangen wir gerade erst an, die Auswirkungen unserer vom Rassismus geprägten Vergangenheit zu verstehen. In erster Linie geschieht dies erst jetzt, weil Wissenschaftler:innen die Erfahrungen von Afroamerikaner:innen lange Zeit nicht berücksichtigten. Zahlreiche Expert:innen berichteten uns, wie schwer es war, Fördergelder für groß angelegte Studien zu bekommen – zum Beispiel gibt es noch kaum wissenschaftliche Literatur zum Auftreten von Depressionen bei Schwarzen Männern –, und diejenigen, die versuchten, Fördermittel für diese Art von Studien zu erhalten, wurden oft abgewiesen. Nach Floyds Tod beginnt sich dies nun allmählich zu ändern. Und selbst wenn Wissenschaftler:innen versuchten, Forschung in diesem Zusammenhang zu nutzen, berücksichtigten sie häufig nicht den Kontext, in dem sich das Leben Schwarzer US-Amerikaner:innen abspielt. So sahen Forscher:innen zum Beispiel den Grund dafür, dass Schwarze häufiger krank sind als ihre weißen Mitbürger:innen, lange in schlechteren Essgewohnheiten und einem ungesünderen Lebensstil. In unserem Buch heben wir hervor, dass wir gerade erst anfangen zu verstehen, dass die Belastung, die damit einhergeht, als Schwarze Person in den USA zu leben, ein entscheidender Faktor ist: Rassismus kann einen buchstäblich krank machen. Unser Buch ist eine journalistische, keine wissenschaftliche Arbeit. Aber wir hoffen, dass wir, indem wir Floyds Geschichte aus einem anderen Blickwinkel erzählen, unsere Leser:innen dazu ermutigen können, ihr Verständnis, auch für den Kontext der Erfahrung von Schwarzen, auf ungekannte Weise zu erweitern.

Sie haben mehr als 400 Interviews für dieses Buch geführt, sich mit den Menschen unterhalten, die George Floyd nahestanden, sowie mit Aktivist:innen, Akademiker:innen und Entscheidungsträger:innen. Welche dieser Gespräche sind Ihnen am besten in Erinnerung geblieben?

Es ist schwierig, hier nur eines zu nennen, daher werden wir auf drei der Gespräche, die wir geführt haben, kurz eingehen. In einem unserer denkwürdigsten Gespräche mussten wir unseren Quellen erklären, dass sie uns, als Journalisten, keine Geschenke machen dürfen. Während des Prozesses ging Robert einmal mit ein paar von Floyds Verwandten in die Mall of America. Er trägt immer dieselben alten, abgetragenen Schuhe, wenn er für eine Reportage unterwegs ist. Die Floyds waren es leid, ihn ständig in diesen Schuhen zu sehen, also nahmen sie ihn mit in ein Geschäft und boten ihm an, ihm ein neues Paar zu kaufen – als Zeichen ihrer Dankbarkeit für unsere frühere Berichterstattung. Es war rührend und zugleich ein wenig unangenehm – auf jeden Fall ein besonderer Moment. Denkwürdig waren außerdem unsere Gespräche mit Tim Walz, dem Gouverneur von Minnesota, und der US-amerikanischen Ikone Reverend Jesse Jackson. Walz, der selbst weiß ist, erzählte ganz offen von seiner Frustration und Enttäuschung darüber, dass selbst ein Ereignis, das in der ganzen Welt für Aufregung gesorgt hat, nicht dazu geführt hat, dass endlich Gesetze verabschiedet werden, um die Ungleichheit von Schwarzen und Weißen zu beseitigen. Er befürchtete, seine beste und vielleicht einzige Chance verpasst zu haben. Doch Reverend Jackson, der in seinem langen Leben bereits viel Leid, aber auch große Fortschritte gesehen hatte, war optimistisch, dass das Land noch immer auf dem richtigen Weg sei, den systemischen Rassismus zu überwinden. “Wir sind immer noch dabei, zu gewinnen”, wurde er nicht müde zu wiederholen, denn er glaubte weiterhin an das Gute im Menschen. Beim Gedanken an seinen unerschütterlichen Optimismus bekommen wir immer noch eine Gänsehaut.

Was hoffen Sie, werden die Leser:innen aus ihrer Lektüre von »›I can’t breathe‹« für sich mitnehmen?

Samuels: Ein neues Verständnis nicht nur der USA, sondern auch davon, dass eine Gesellschaft von ihrer Vergangenheit verfolgt wird, wenn sie diese nicht anerkennt und konfrontiert. Als Floyd von der Polizei gestellt wurde, stand ihm die Angst ins Gesicht geschrieben. Er verstand etwas, das viele der Menschen, die später die Aufnahmen seiner Ermordung sehen sollten, nicht verstanden. Etwas über die USA. Wir möchten, dass unsere Leser:innen verstehen, warum er diese Angst, diese Panik verspürte. Wir wollten aber auch keine Horrorgeschichte schreiben, die Schwarzsein mit dem Erleiden unendlichen Schmerzes gleichsetzt. Unsere Recherche hat etwas anderes ergeben, und das ist auch nicht der Eindruck, den wir in unseren Gesprächen mit den Floyds, Jesse Jackson oder den Müttern, die in Minnesota für Gerechtigkeit kämpfen, gewonnen haben. Sie waren weiterhin optimistisch, die Welt zu einem besseren Ort machen zu können – beinahe als eine Art Selbstschutzmechanismus angesichts des großen Leids, das sie umgibt. Ich hoffe, dass die Leser:innen erkennen werden, dass es die marginalisierten Menschen in diesem Buch sind, die die Hoffnung für die USA verkörpern – selbst wenn andere um sie herum die Hoffnung schon längst verloren haben.

Olorunnipa: Eines der Wörter, von denen wir hoffen, dass sie bei den Leser:innen hängen bleiben werden, ist »grace« [»Gnade«]. Unter Gläubigen gibt es eine beliebte Redensart – »There, but for the grace of God, go I« [»Das hätte auch mich treffen können!«] –, die betont, wie sehr unser individuelles Schicksal von Mächten beeinflusst wird, die jenseits unserer Kontrolle liegen, und dass viele von uns großes Glück haben, nicht mit denselben Herausforderungen konfrontiert zu sein wie Floyd. Wir hoffen, dass unsere Leser:innen nach der Lektüre des Buches besser verstehen können, worin genau diese Herausforderungen bestehen, und dass ihnen dies dabei hilft, ihren Mitmenschen – egal welcher Herkunft oder Klasse – mit etwas mehr »Gnade« zu begegnen. Wenn unsere Gesellschaft Floyd bei der Bewältigung dieser Herausforderungen etwas mehr »Gnade« gewährt hätte – und wenn Officer Derek Chauvin auch nur ein kleines bisschen »Gnade« gezeigt hätte –, wäre Floyds Geschichte vielleicht eine nicht ganz so tragische gewesen.


© S. FISCHER Verlag, übersetzt von Luca Homburg

Zum Buch:

»I can't breathe« George Floyds Leben in einer rassistischen Welt von Toluse Olorunnipa und Robert Samuels, ISBN: 978-3-10-397148-4 erschienen im S. FISCHER Verlag.




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